Episode II
Er schrie, ruderte wild mit den Armen, versuchte irgendetwas zu greifen.
Etwas streifte ihn. Verzweifelt griff er in die Richtung, versuchte sich festzuhalten. Hände griffen nach seinen Armen. Sie entglitten ihnen, erneut griffen sie zu. Immer mehr Hände schienen nach ihm zu greifen. Sie hielten ihn fest, ein kurzer Ruck und er schwebte langsam hinab. Sanft kam er auf weichem Boden auf. Die Hände ließen los ...
„Nein, nicht gehen, lasst mich nicht wieder allein!“
Verzweifelt griff er nach ihnen. Doch sie verschwanden im Dämmerlicht.
Dämmerlicht.
Schweißgebadet sah er sich um. Tatsächlich, es war heller hier unten. Aber wo war er jetzt gelandet? Er konnte es nicht zuordnen. Es schien eine Art Tunnel zu sein. Er konnte es nicht genau erkennen, alles war seltsam dunkel, strukturlos, trostlos.
In seinem Kopf hämmerte der Puls, ein Kloss so gross wie ein Fussball saß in seinem Hals fest.
Er versuchte sich zu beruhigen. All das machte doch überhaupt keinen Sinn. Er hoffte inständig, dass dies nur ein Traum wäre. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass es so einfach nicht sein würde.
Langsam stand er auf und sah sich um. Gebogene und verbeulte Wände umgaben ihn. Der Boden war weich und zäh.
Er sah nach oben. Es war kein Tunnel, er war in einer Schlucht. Die Wände ragten scheinbar endlos nach oben und verschmolzen mit der Dunkelheit. Vorsichtig betastete er sie. Sie waren warm und gaben nach. Fast wie Gelee, nur mit fester Oberfläche. Von dichtem betrachtet waren sie rot gefärbt, von unregelmässigen, tiefroten Linien durchzogen.
Der Boden sah ähnlich aus. Er war gleichmässig tiefrot, ja fast schwarz gefärbt. Dunkelrote runde Plättchen lagen verstreut herum. Sie erinnerten ihn an Frisbee-Scheiben.
Er bückte sich um eines zu berühren. Es zerfiel zu rotem Pulver.
Er richtete sich wieder auf. Wo immer er hier auch gelandet war, er hatte keine Erklärung für all das.
Was ging hier vor? Wie war er hierher geraten? Was waren das für Stimmen und Geräusche?
Der Schmerz in seiner Brust hatte nicht nachgelassen. Er fühlte sich matt und ausgelaugt.
Aber hier bleiben würde er nicht. Zumindest nicht freiwillig. Dies war eine Schlucht, er hatte eine Wahl. Er konnte sich für eine Richtung entscheiden.
Auf den ersten Blick sah alles gleich aus. Er sah sich etwas genauer um. Der Weg schien auf der einen Seite etwas abzufallen. Dafür schien es auf der anderen etwas heller zu sein.
„Tja, im Dunkeln ist sicherlich gut munkeln und bergab läuft es sich leichter. Aber im Zweifel sollte man sich wohl dem Licht zu wenden.“
Er wandte sich zum Gehen.
Ein stechender Schmerz in seinem Arm ließ in zusammenzucken. Seine linke Armbeuge schien zu brennen, Lava durch ihre Adern zu schiessen. Er schrie vor Schmerzen, fiel auf die Knie. Die Luft blieb ihm weg, seine Augen quollen aus ihren Höhlen, ihm wurde schwindelig. Dieser Schmerz ...
Er fühlte die nahende Ohnmacht.
Nein, nicht. Reiss dich zusammen! Tief durchatmen. Atmen, schön weiteratmen.
Was war das ...
Dumpfes Dröhnen tönte in seinen Ohren.
Keuchend riss er die Augen auf.
Der Boden hatte seine Farbe verändert. Nein, nicht verändert. Er fing an dunkelrot zu leuchten, wie roter Wein, den man gegen das Licht hält. Die runden Plättchen zerfielen. Er sah zur Wand. Die eben noch roten Linien pulsierten in feurigem Orange.
Verdammt nochmal, was ist hier bloß los?
Er zwang sich aufzustehen.
Dröhnende Pulsschläge erfüllten die Schlucht. Die pulsierenden Linien an den Wänden schienen sich zu vereinen. Die Scheiben hatten sich aufgelöst, der Boden glomm in tiefem Rot. Der helle Schein war in weite Ferne gerückt.
Es rauschte in seinen Ohren, seine Augen schmerzten.
Das Dröhnen hinter ihm wurde lauter. Er sah sich um.
„Oh nein ...“
Die Wände lösten sich auf. Leuchtend orange liefen die Linien zu Boden, vermischten sich mit dem roten Staub der Plättchen zu einer brodelnden, brüllenden Masse.
Um ihn herum schien die Hölle auszubrechen.
Den schmerzenden Arm an den Körper gepresst rannte er los. Nur weg von hier.
Er fühlte wie der Boden weicher wurde, sah in den Augenwinkeln die Linien zu Boden fliessen, hörte das Tosen der Masse hinter ihm.
Sein Herz hämmerte. Er spürte wie ihm Adrenalin ins Blut schoss, fühlte frische Kräfte in sich. Der Schmerz im Arm war nicht mehr gegenwärtig. Er rannte um sein Leben.
Der Boden gab immer mehr nach, die Schritte fielen schwerer. Er schien nach ihm zu greifen, ihn festhalten zu wollen. Die Wände um ihn herum leuchteten Orange, es gab keine Linien mehr.
Er rannte so schnell es seine Beine hergaben.
Seine Lungenflügel brannten, die Muskeln schmerzten, seine Kräfte erlahmten. Er sah sich nicht um, wusste den Verfolger dicht hinter sich.
In der Ferne konnte er noch den hellen Schein erahnen. Ihm wurde bewusst, dass er ihn nicht erreichen würde. Hoffnungslosigkeit machte sich in ihm breit.
Er wollte stehen bleiben und sich seinem Schicksal ergeben, da sah er das Ende der Schlucht vor sich.
Es war nicht mehr weit. Er mobilisierte seine letzten Kräfte, zündete seinen letzten Turbo, quetschte das letzte bisschen Sauerstoff aus seinen Lungen.
Das Ende der Schlucht war greifbar nah, plötzlich erkannte er es. Das Ende der Schlucht war ebenso das Ende des Weges. Dunkle Leere tat sich vor ihm auf.
Er brach zusammen.
Zumindest dachte er das.
Aber seine Beine gehorchten ihm nicht mehr. Er war scheinbar nur noch Gast im eigenen Körper, zum Zuschauen verdammt.
Seltsam unbeteiligt sah er sich mit riesigen Sätzen auf den Abgrund zulaufen, ein gewaltiger Sprung ...
Und er fiel.