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Der Schmetterling in mir

von ILJA


So kann ein Mensch, der im Traum ein Schmetterling gewesen zu sein glaubte, nicht wissen, ob er in Wahrheit ein Mensch oder ein Schmetterling ist, da ja auch sein Menschdasein der Traum eines Schmetterlings sein kann.
Chuang-tse (4.-3. Jh. v. Ch.)


Kein Lüftchen regt sich. Der endlos scheinende Himmel ruht in tiefem Blau. Ein rosaroter Streifen am Horizont kündigt den aufziehenden Morgen an.
Die Natur scheint in Ehrfurcht erstarrt. Stille breitet sich wie ein sanfter Teppich aus.
Feuriges Orange flammt auf. Die aufgehende Sonne verdrängt die Dunkelheit und läutet einen strahlenden Tag ein. Die Kraft ihrer Strahlen vertreibt die feuchte Kühle der Nacht.
Langsam erwacht die Natur zum Leben. Die ersten Amseln flöten ein kräftiges 'Guten Morgen', in den Bäumen erwachen die Spatzen mit lautem Spektakel. Hummeln summen durch die Morgenluft, Bienen beginnen emsig mit ihrer Arbeit, Spinnen reparieren ihre Netze. Wärme steigt auf.
Mir wird warm. Vorsichtig strecke ich meine Fühler aus. Ich öffne meine Flügel und breite sie weit aus. Bunt schillern die einzelnen Schuppen, ich richte sie in die Sonne, möchte all die Wärme in mich aufnehmen. Ich geniesse das Bad in der Sonne, verharre still auf meinem Blatt.
Vor mir breitet sich eine weite Wiese aus, wilde Blumen öffnen ihre Blüten im Schein der Sonne. Ein Bach murmelt leise sein Gedicht, in der Ferne ist ein Waldrand zu erahnen. Lerchen steigen auf und schmettern ihr Lied, Insekten kreisen, ein unbestimmtes Summen liegt in der Luft. Ein lauer Windhauch weht süsslichen Duft zu mir.
Ich schwinge mich in die Lüfte, leichter Wind greift unter meine prächtigen Flügel, lautlos gleite ich dahin. Leuchtende Blüten locken mich, ich kann mich kaum entscheiden. Der rosarote Klee gleich unter mir leuchtet in der Sonne und duftet betörend. Ich lasse mich auf einer der Blüten nieder und sauge den süssen Nektar auf.
Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne, es wird kühl. Ein kräftiger Windstoss schüttelt mich durch. Ich klappe meine Flügel zu, ziehe meine Fühler ein und harre aus.
Ich werde kräftig durchgeschüttelt ...

... und öffne die Augen.

Irritiert sehe ich mich um. Ich sitze in der Bahn, die Waggons schaukeln über die Gleise. Es ist Morgen und draussen bietet sich ein trostloses Bild. Ich fahre durch ein Industriegebiet, Schornsteine rauchen, große Hallen schlafen in tristem Grau. Der Himmel ist wolkenverhangen. Es ist windig, feiner Nieselregen schlägt an die Scheiben, sammelt sich und läuft in kleinen Bächen herunter.
Mir gegenüber liest ein älterer Herr in seiner Zeitung, die Titelseite verkündet mal wieder einen Skandal im städtischen Rathaus. Neben mir lässt sich ein junges Mädchen von irgendwelchen Techno Titeln beschallen. Sie ist wirklich hübsch, aber sicherlich schon taub, trotz ihrer Kopfhörer bin ich live dabei.
Die Heizung ist sehr gut eingestellt. Wohlige Wärme steigt auf, ich blinzele träge aus dem Fenster. Das Schaukeln des Waggons und der immer gleiche Technorhythmus neben mir sind ermüdend, ich schliesse meine Augen.

Ich strecke meine Fühler aus. Der Wind hat sich gelegt, die Sonne kämpft mit den Wolken. Sie gewinnt den Kampf und wieder breite ich meine Flügel aus. Wie herrlich sie aussehen ...
Ich schlage kräftig mit meinen Flügeln und erhebe mich erneut in die Lüfte. Unendliches Grün zieht unter mir dahin, Blumen leuchten in allen Farben. Und wieder kann ich mich nicht entscheiden.