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Nur einen Schuss

von ILJA

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Der Himmel war wolkenverhangen an diesem Morgen. Die Strassen glänzten feucht vom Regen der letzten Nacht. Der laue Wind schüttelte immer wieder Regentropfen von den Blättern der Bäume. Die ersten Vögel erwachten und begrüßten den neuen Tag mit jubelndem Gesang.

Er hörte und sah nichts um sich herum. Tropfen liefen an seiner Kleidung herab. Schon seit Stunden lag er regungslos im Gebüsch und wartete. Wartete darauf, dass ER endlich heraus kam. Nichts war von ihm zu sehen, nur ein kleiner schwarzer Kolben lugte durch die Blätter. Sein Puls ging ruhig und gleichmäßig, er sah auf die Uhr. Nicht mehr lange und es war soweit, Zeit abzurechnen.

Er hatte lange nachgedacht.
Wenn er diesen Menschen umbrachte, war er keinen Deut besser.
War er nicht?
Er befreite die Welt von einer Bedrohung, nie wieder würde DER jemandem etwas zu Leide tun. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll durch Menschenhand vergossen werden.
Aber ER ist doch auch ein Mensch!
Ist ER das? Ist jemand, der über ein wehrloses Kind herfällt wirklich ein Mensch?
Nein, das war kein Mensch und IHN Tier zu nennen, wäre eine Beleidigung für die Fauna auf diesem Planeten. ER war Abschaum, ein ... ein ... ein Ding, eine grausame Laune des Schicksals, eine Ausgeburt der Hölle, aber kein Mensch.
Aber gibst Du nicht Deine Menschenwürde auf, wenn Du IHN tötest? ER hat doch seine gerechte Strafe erhalten.
Strafe? ER hat eine Strafe erhalten, aber gerecht? Was ist die gerechte Strafe für ein genommenes Menschenleben? Für ein kindliches Menschenleben? Kann diese Tat überhaupt gerecht bestraft werden?
Nein, es gab keine gerechte Strafe, auch der Tod war viel zu wenig. Aber es war die einzige Strafe, die ihm ausreichend erschien. Er war bereit einen Teil seiner Menschenwürde aufzugeben, um diesen Abschaum direkt in die Hölle zurück zu befördern.
Aber Deine Tochter wird dadurch nicht wieder lebendig!
Nein, das wird sie nicht, nie wieder. Und genau aus diesem Grund wird auch ER sterben.

Ein kleines Mädchen wurde vermisst. Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und 2 fehlenden Milchzähnen. Die Polizei fand sie im Wald, missbraucht und erdrosselt. Zwei Wochen später wurde der mutmaßliche Täter verhaftet, ein junger Mann, Anfang zwanzig.
Die Experten vor Gericht waren der Meinung, SEINE Psyche hätte in der Kindheit einen Knacks bekommen und mit einer Therapie würde man IHM helfen können.
'Wieso sollte IHM geholfen werden, wieso?' schrie er die Experten an. 'Wer hilft denn uns, wer hilft uns?'

Die ersehnte lange Haftstrafe blieb aus, 5 ½ Jahre waren das Urteil, das als angemessen bezeichnet wurde. Er stürzte sich wie ein Besessener auf IHN, wollte IHN umbringen, gleich dort im Gericht. Er war so nah dran, als die Wache ihn festnahm. Er tobte und wütete, spukte, kratzte und biss, er war wie von Sinnen.

Das war damals, heute war er ein Anderer. Er hatte lange gebraucht, um mit seiner Situation fertig zu werden. Erst verlor er sein Kind, dann verließ ihn seine Frau. Von seiner Arbeit wurde er beurlaubt, seine Freunde versuchten ihm zur Seite zu stehen, er hat sie alle vergrault. Damals.

Der Lichtstreif am Horizont kam unverhofft. Es war ein Inserat im Internet:
"Waffen aus russischen Armeebeständen zu verkaufen". Sollte es tatsächlich so einfach sein?
Es war so einfach. Knapp 2 Wochen später hielt er es in den Händen, ein Scharfschützengewehr, nicht mehr ganz neu, aber mit Schalldämpfer und reichlich Munition.
Er fühlte sich gut. Jetzt war er am Zug, er war wieder da, er würde sein angemessenes Urteil vollstrecken.

Er machte sich daran Informationen einzuholen. Es dauerte nicht allzu lange und er hatte das Gefängnis, die Zellennummer und den Entlassungstag in Erfahrung gebracht. Er sah sich die Gegend genau an, vermaß die Entfernung vom Tor zu verschiedenen Positionen, suchte nach Fluchtwegen.
In jeder freien Minute übte er mit seinem Gewehr. Es war eine gute Waffe, sehr präzise und sehr leise.
Zuerst hatte er sich gefragt, ob er IHM ins Gesicht sehen sollte, wenn es passiert. Damit ER wusste, wer IHM sein Leben entriss, IHN in die Hölle schickte. Doch dann sah er das Gewehr und alle Fragen waren beantwortet. ER wird es wissen, in dem Moment, wenn die Kugel IHN trifft, wird ER es wissen.
Er erschoss IHN in allen denkbaren Varianten, stehend, laufend, kniend, hockend, bei Sonne, Regen, Hagel und Sturm. Hunderte Male starb ER vor seinem inneren Auge. Er war bestens vorbereitet, nur einen Schuss würde er brauchen.

Das Tor ging auf. Da war ER, mit Jeans und Hemd, eine Sporttasche in der Hand. ER nahm sich eine Zigarette aus der Hemdtasche und zündete sie an. Genüsslich zog ER am Filter und blies den Rauch in Kringeln aus. Ein Sonnenstrahl durchdrang die Wolken und schien IHM ins Gesicht. Das Tor fiel dröhnend ins Schloss.
Jetzt oder nie. Er visierte die Brust des Abschaums an, sein Herz schlug gleichmäßig, er hielt den Atem an.
Eine kleine Krümmung des Zeigefingers, ein kurzes Schnaufen des Schalldämpfers und die Kugel war auf dem Weg. Er glaubte sehen zu können, wie sie auf Ihr Ziel zuflog.
Der Abschaum schnipste lässig die Zigarette weg, da traf IHN die Kugel wie ein Schlag. Erstaunen und Entsetzen spiegelten sich kurz auf seinem Gesicht, ER schleuderte an die Wand und sackte zu Boden. Blut sickerte durch das kleine Loch in seinem Hemd.
SEIN Brustkorb hob und senkte sich schnell, ein Fuß zuckte. Dann bewegte ER sich nicht mehr.

Emotionslos sah er sich die Szene durch das Zielfernrohr an. Es war Zeit zu gehen.
Mit geübten Griffen packte er das Gewehr und seine Unterlage in eine Tasche. Er verspürte keine Freude, keine Erlösung, er hatte IHN in seinen Gedanken schon zu oft erschossen.
Er hängte sich die Tasche um und streute Laub über die Stelle, wo er gelegen hatte. Ein prüfender Blick in die Runde, niemand hatte ihn bemerkt. Dann verschwand er auf einem schmalen Pfad zwischen den Bäumen.