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Henry's Abschied

von Nilsomania


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Henry war kein schlechter Gegner, doch irgendwie war es an jenem Tag anders. Er schien sich nicht richtig auf unser Spiel zu konzentrieren, es war, als wäre er mit etwas sehr beschäftigt. Doch als ich ihn fragte, worüber er so krampfhaft nachdachte, sagte er schlicht: "Ich weiß es selbst nicht so recht."
Mit seinem nächsten Zug gab er mir die Möglichkeit ihn Schachmatt zu setzen. Aber es schien ihn nicht sonderlich zu bewegen, als ich trocken zu ihm sagte: "Schachmatt."
Er stand auf und verließ das Zimmer; was zurück blieb war sein halbvolles Glas Whisky und ein Buch mit dem Titel 'Aus dem Albtraum erwachen'. Da wusste ich, womit er sich während unseres Spiels befasst hatte.
Henry's Leben war nicht gerade lebenswert, alles was er hatte waren ein Berg Schulden und sein Hund. Aber im Traum war das anders, doch es war nicht real, egal wie real es wirken mochte.
Bevor er das Zimmer verließ, hatte er mir noch zugerufen, er gehe in den Wald spazieren. Das sonnige Wetter an diesem Tag verleitete mich dazu ihm hinterherzulaufen. Außerdem wollte ich herausfinden, aus welchem Grund Henry dieses Buch las.
Als ich ihn eingeholt hatte, murmelte er: "Na endlich!" als hätte er gewusst, dass ich ihm nachkommen würde.
"Warum?" wollte ich wissen, doch er antwortete mir nicht. So gingen wir für eine kurze Zeit stillschweigend nebeneinander her, als er plötzlich einsetzte.
"Weißt du, was ich an der Deutschen Bahn so hasse?"
Ich wusste es natürlich nicht, immerhin kannte ich Henry erst seit ein paar Tagen. Es gab nicht viel, dass ich über ihn wusste. Er war mir im Park aufgefallen, als er so verzweifelt in die Luft gestarrt hatte.
Nach einer kurzen Pause klärte er mich auf.
"Die Schokolade die sie in den Zügen verkaufen, die ist der letzte Fraß."
Wir mussten beide herzhaft lachen und ich outete mich.
"Ich habe die noch nie gekostet."
"Glück gehabt." sagte er grinsend.
Wir bogen auf einen unbefestigten Weg ab, der direkt in den Wald führte.
"Das ist mein Lieblingsweg. Ich zeige dir einen wunderbaren Platz, du wirst beeindruckt sein." sagte er.
Ich drehte mich noch einmal um und ließ meinen Blick über die Stadt schweifen, bevor ich ihm in den dichten Wald folgte. Ich war nun wirklich interessiert, wie dieser Platz wohl aussehen mochte. Aber ich wollte auch verstehen, was in Henry gerade vor sich ging.
Als ich ihn von hinten mit seinem Hund und dem Hut sah, erinnerte er mich an einen alten Freund, der allerdings schon verstorben war.
"Glaubst du an Schicksal?" fragte ich ihn.
Nach kurzem Überlegen gab er nur ein kurzes Lachen von sich.
"Du kennst nur einen Teil meiner Geschichte", sagte er vorwurfsvoll, "aber vielleicht ist es besser so!"
"Das glaube ich nicht", gab ich zurück, "wenn du mir deine Geschichte erzählst, dann kann ich dir womöglich helfen."
Er schüttelte den Kopf.
"Das glaube ich kaum." sagte er hart.
Nach einer gefühlten Ewigkeit deutete er auf einen großen umgefallenen Baumstamm.
"Wir sind da!"
Er hatte Recht gehabt, es war ein wundervoller Platz.
"Du hast nicht gelogen." gestand ich, und er verbeugte sich vor mir wie ein Künstler, nachdem er einen Trick vollführt hat. Er bot mir eine Zigarette an und, obwohl ich normalerweise nicht rauchte, machte ich an diesem Tag eine Ausnahme.
"Dieses Ding hat einen guten Freund von mir umgebracht", sagte ich, während ich auf die Zigarette zeigte, "er war dir ähnlich."
"Aber er hatte bestimmt nicht so ein Scheißleben wie ich." entgegnete Henry lautstark.
"Das mag sein, aber dafür kenne ich dich nicht gut genug." erwiderte ich verlegen.
Er schnipste seine Zigarette weg.
" In drei Tagen ist es vorbei, warum mache ich mir überhaupt so einen Kopf?!"
Dann wendete er sich von mir ab und ging in die Richtung aus der wir gekommen waren.
Meine Menschenkenntnis war nicht sehr gut, aber ich hatte das Gefühl, dass er sich das Ziel gesetzt hatte, dem Ganzen ein Ende zu machen.
Seinen Hund hatte Henry zurückgelassen und auf einmal wusste ich genau was Henry vorhatte. Aber ich wusste nicht, ob ich ihn aufhalten konnte oder nicht.
Schnell rannte ich zu Henry's Wohnung zurück.
Doch es war zu spät. Er war weg, lediglich sein Glas stand noch auf dem Tisch, diesmal leer. Daneben ein Stück Papier, das wie ein Abschiedsbrief wirkte.
Zitternd las ich den von Hand geschriebenen Text.
"Er hat sich entschieden." dachte ich. Dann machte ich mich auf den Heimweg.
Sein Hund wird mich noch lange an Henry erinnern, den Mann den ich kaum kannte.