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Das Meer

von (NeDo)


Manchmal setzt man sich allein hin und schaut durch die Scheinwelt ins Unendliche hindurch und fragt sich: Wer bin ich? Er fragt sich: Was bin ich? Was habe ich erreicht, während die Tage und die Jahre meines Alters langsam auf den Boden des Vergessens fallen, wie die Blätter eines Baumes im Herbst?
Man fragt sich: War das Wichtigste in meinem Leben, wirklich das Wichtigste? War meine große Liebe wirklich die Größte?
Man fragt sich: Was für einen Sinn hat das Leben? Und wofür lohnt es sich, sich durch das Leben durchzukämpfen? Man fragt sich weiter und weiter: Wieso riechen die Straßen im Herbst nach einer Hoffnung, die es nicht mehr gibt! Nach einer Liebe, die verloren ging! Wieso gibt sich der Regenbogen erst nach dem Regen preis? Wohin geht die Sonne, wenn sie untergeht? Wohin schwimmen die Papierboote, die wir hoffnungsvoll auf dem Fluss haben segeln lassen? Woher kommen die Sterne und wo gehen sie hin, nachdem sie ausgebrannt sind? … Man seufzt tief aus ganzem Herzen und es schleichen sich –unbemerkt- ein paar Tränen, um das Bild der Einsamkeit auszumalen. Und man schaut weiter ins Unendliche!!!

In einer solchen Phase fand ich mich. Ich wusste nicht, wo ich hin soll, ich wusste nur, dass ich weg muss. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ans Meer gehen zu müssen. Für einen Moment sah es für mich so aus, als wäre es der Wille des Schicksals, ein schon gefälltes Urteil, das die Kraft der natürlichen Gesetze hat… wieso?? …ich hab keine Ahnung! Und wieso soll ich es wissen? Wer fragt sich zurzeit nach dem Sinn seines Lebens oder seiner Taten? Manchmal kommen mir die Menschen so vor, als wären sie Tennisbälle, die auf einen weiten Boden geworfen wurden, jeder geht in eine Richtung, ohne sich zu fragen, wohin ihn diese Richtung führt!

Ich sitze und schaue mir den Sonnenuntergang an. Ein Melodrama, das sich jeden Tag wiederholt...ein wunderschönes Melodrama, das ich diesmal erlebe und bezeuge. Die Meeresoberfläche reflektiert die letzten Sonnenscheine, sodass sie selbst rot geworden ist, als wäre es das Blut eines weiteren gestorbenen Tages. Bald geht die Sonne vollständig unter und dann kommt die Nacht wie verabredet um dieses verbrecherische Melodrama zu verbergen. Und das jeden Tag … jede Nacht …

Vor mir erstreckt sich das Meer, dessen Wasser mit dem Blut des vergangenen Tages vermischt war. Die Gezeiten kuscheln mit meinen nackten Füßen, die zarte Luft weht um mich herum und flüstert in meine Ohren Geheimnisse, die ich nicht ertragen kann, wie eine schwere Last. Mit jedem Lufteinzug spüre ich ein neues Leben in mir und langsam schwebe ich in meiner Gedankenwelt; wie viele Leute saßen seit Tausenden von Jahren hier? Wie viele Schäfer streckten hier ihre erschöpften Beine, nahmen sich die Flöte und beklagten sich bei dem Meer über den Schmerz einer unerfüllten Liebe? Wie viele Soldaten haben hier ihre Pferde gebunden und ihre stumpfen Schwerte für einen neuen Tag geschärft? Wie viele Verletzte saßen hier am Meer und haben mit dem Wasser ihre verwundeten Körper und Seelen gespült? Das Meer und der Mond sind seit Tausenden von Jahren hier, sie sind die Zeugen des menschlichen Dramas.

Ich saß am Meer, vertieft in meiner endlosen Gedankenwelt. Mir schien alles Illusion zu sein… ein Phantom, das mich in meinem Unbemerkt-Sein angreift. Wer kann mir garantieren, dass ich der bin, der ich bin? Wer kann mir meine eigene Existenz als solche an sich und für sich beweisen?
Ich stand auf und ohne eine bestimmte vorherige Absicht vorgehabt zu haben, sagte ich, als würde ich mit dem Meer reden:

  - Oh du…das Meer…du hast Sorgen genommen und sie gegen Hoffnungen ausgetauscht…du hast Körper genommen und Seelen hast du vergeben. Oh du mächtiges Meer, enthülle mir dein unbekanntes Geheimnis!! Heile mich von meinem Selbst und rette mein Selbst vor mir.

Für ein paar Sekunden rührte sich nichts, doch plötzlich donnerte in der Ferne eine Stimme. Sie kam aus allen Richtungen und aus keiner zugleich. Eine mächtige Stimme, die besagte:

  - Du Reisender, was hast du denn gegeben, um nehmen zu wollen? Und was willst du denn geben, wenn du genommen hattest? … Es war lautes Erstaunen, sprachlos. Mir fehlten für einen Moment die Worte. Mit einer aus Angst verstellten Stimme konnte ich doch fragen:

  - We…wer bist du?

  - Ich bin das Meer, du Reisender… Ich bin die Inspiration aller schlagfertigen Poeten…Ich bin der Freund aller alleinigen Reisenden und Einzelgänger…Ich bin der Trost aller Weinenden…

  - ……!

  - Hast du kein Mitleid mit mir? Wie viele Sorgen und Trauer trage ich seit ewiger Vergangenheit! Wie viele verzweifelte Rufe habe ich nachgerufen? Wie viele melancholische Lieder habe ich nachgesungen! Und wie viele Verwundete habe ich verarztet…!

  - Oh du Meer… entschuldigen will ich mich, doch für meine Entschuldigung kenne ich keine Entschuldigung …es tut mir leid… aber mein Körper ist von den Sorgen überfordert und mein Herz ist von den Ängsten überlastet, so dass ich mich manchmal frage, was für einen Sinn dieses Leben hat, ein großer langer Albtraum ohne Anfang oder Ende!! Unfug, den die Vorfahren gemacht und gesagt haben, den wir jetzt sagen und machen, doch denselben werden die Nachkommen auch weitermachen und weitersagen!! Oh du Sisyphos in deiner langen ewigen Folter, doch nicht die Mühen sind deine Folter, sondern der sinnlose bedeutungslose Unfug, weswegen du sie dir zu geben gezwungen bist!!

  - Oh du Reisender … sein Sinn ist das Finden zu seinem Einen. Das Einhalten von seinen Gütern und das Bekämpfen von dem Bösen…

  - aber was kann ich allein in dieser großen nihilistischen Welt bewirken? Ich bin nur ein winziger Wassertropfen in einem großen breiten Fluss, der ihn mitnimmt, wohin er immer fließt! Ich besitze nur eine übermüdete Seele, zu schwach bin ich fürs Gute, noch den Reformen bin ich gewachsen. Wieso hat der Eine das Böse so stark und fähig gemacht, während das Gute schwach und passiv ist???

  - Oh du Reisender… du bist ein ganzes Heer in deiner Einzelheit…du bist der Soldat und der Führer zugleich. In deiner Unzulänglichkeit liegt deine Vollkommenheit. Vertraue dir selbst und wisse, nicht der Eine hat das Böse stark erschaffen, der Eine hat das Böse und das Gute gleich stark geschaffen und hat das letzte Wort dem Guten überlassen. Das Böse wäre niemals so stark geworden, wenn das Gute nicht so schwach geworden wäre! Lerne: Die Wölfe wären keine Wölfe gewesen, wenn die Schafe keine Schafe gewesen wären.

  - Mir scheint es dir mangelt es nicht an einleuchtender Weisheit. Sag mir denn: Wieso hat der Eine das Böse geschaffen? Wieso hat er die ganze Welt nicht voller Güter und Liebe gemacht!

  - Ein freies, wählendes Wesen hat das Schwarze so dunkel gemacht, wie er das Weiße hell und rein machte. Böse ist eine irreführende Bezeichnung, sie ist kein eigenes Wesen sondern eine eigene Illusion! Das blinde Gehorchen eigener Triebe und persönlicher Bedürfnisse, ohne dabei Rücksicht auf die Anderen zu nehmen, ist das wahre Böse. Der Eine hat das Gute geschaffen und der Mensch hat das Böse geschaffen, doch das Werk des Einen ist allein von Dauer. Lerne:
Das Leben ist ein Theater mit Tausenden Rollen von Tausenden, verschiedenen Schauspielern und Tausenden unterschiedlichen Dekoren, aber nur mit einem sich immer wiederholenden Theaterstück, indem der bittere Kampf zwischen diesen zwei Polen, dem Bösen und dem Guten, dem Schwarzen und dem Weißen, stattfindet. Ja, nicht das Schwarze ist stärker als das Weiße, aber während das Böse seinen Stärken und seinen Fähigkeiten vertraut und sie sammelt, verliert sich das Gute in dem Labyrinth seiner Verzweiflung und seines Mangels an Selbstvertrauen.

Ich lief denkend, an dem was mir das Meer gesagt hat, an den Strand langsam hin und her. Plötzlich fiel mir ein Gedanke ein, den ich direkt in Worte übersetzt habe:

  - Es muss doch viele gegeben haben, die vor mir das gleiche versucht haben! Und wo ist ihr Erfolg? Wir sehen ihn doch nicht!

  - Oh du Reisender… doch siehst du ihren Erfolg jeden Tag und jede Stunde. Was denkst du, wie die Welt ausgesehen hätte, wenn es sie nicht gegeben hätte? Wahrlich sind die größten Helden die unbekannten Selbstlosesten gewesen! Wahrlich sind manchmal die normalsten Menschen die Besonderen, ohne es zu wissen. Vertraue deiner inneren Stärke, dann wirst du stark sein.

  - Wie kann ich denn auch so stark sein, während ich zu dir aus Schwäche und Ratlosigkeit geflüchtet bin?? Wem es an einer Sache mangelt, kann sie nicht geben!

  - Einer von denen magst du sein. Jeder Mensch ist was Besonderes und zu Wundern fähig. Und so bist du auch. Du bist der Stab von Moses, der den Zauber der Bösen aufgefressen hat, du bist das Schiff von Noah, mit dem der Eine die Gläubigen gerettet hat, du bist der Olivenzweig, mit dem die Hoffnung erst lebendig wurde. Du bist als Mensch besonders, ja du bist der Stift, mit den Newton seine Gleichungen geschrieben hat und mit dem die Welt mal ihre neuen Gesetze schreiben wird, du bist das Metrum, auf den die Poeten ihre Gedichte geschrieben haben und schreiben werden. Du bist all das zusammen, du kennst aber deine Grenzen nicht und deine Fähigkeiten sind dir fremd, obwohl sie unter deiner Haut stecken. Du hast vergessen, wozu du fähig bist und so hast du dich selbst vergessen!

  - Oh du Meer. Das Wortspiel beherrsche ich nicht all zu gut wie du. Der Aphorismus ist ein weites Land, deren Einwohner die Wörter sind. Wörter sind aber überall; in den Zeitungen, auf den Schulhöfen, einfach überall...doch die Einwohner unseres realen Landes sind die Taten! Wie leicht bewegt man seine Zunge und wie schwer bewegt man seine Hände! Doch schwer ist es aber auch genug, die Wahrheit zu erkennen, oder sie zu besitzen und ins Licht zu bringen... oh du Meer, du hast mich mit dieser Wahrheit nicht stärker gemacht, doch schwächer wurde ich damit...

  - Der Besitz der Wahrheit ist nicht schrecklich oder schwer, sondern langweilig, wie jeder Besitz (*1). Das haben auch deine Vorfahren gesagt. Ja, Wahrheit sind nur Worte, doch nicht alle Worte sind gleich; Schulen lehren Patriotismus, Zeitungen produzieren aufregende Sensationen, Politiker kämpfen für ihre Wiederwahl. Darum können alle diese Drei für die Rettung der menschlichen Rasse nichts tun (*2). Wer retten will, muss einen freien mutigen Geist besitzen, wer einen freien mutigen Geist besitzt, muss erst sich selbst retten, bevor er die anderen rettet, denn nur ein Geretteter ist zum Retten fähig. So ein Geist wird, du Reisender, nicht vererbt sondern erworben. Der Jammer mit der Menschheit ist, dass die Narren so selbstsicher sind und die Gescheiten so voller Zweifel sind (*2). Nicht die Masse rettet sich, sondern wird von den Einzelnen gerettet. Mehrheiten zementieren das Bestehende, Fortschritt und Änderung sind nur über Minderheiten möglich (*2)...

  - Du Reisender.... Viele Leute sanken, weil sie nicht versucht haben, zu schwimmen, viele Leute lebten in der absoluten Dunkelheit, weil sie nicht versucht haben, ein Feuer anzuzünden! Du kannst nicht zum anderen Ufer, wenn du den Mut nicht hast, das Alte zu verlassen! Viele Leute glauben, dass das Schicksal nicht zu ändern ist, sie glauben, sie bekommen was sie haben und sie haben was sie bekommen. Ihre Lösung: Wenn du nicht findest, was du magst, dann möge, was du findest. Ein alter Weise sagte: ´Wer sich nicht traut, die Berge hinaufzusteigen und sie zu bezwingen, wird den Rest seines Lebens auf dem Abgrund zwischen den Löchern verbringen.

Seine Worte wirkten auf mich wie die Blitze eines zornigen Himmels. Ich überlegte und überlegte, was für einen Sinn seine Worte beinhalten. Eigentlich hat er recht, echt vieles kann man erreichen, wenn man nur den starken Willen dafür hat! Riesig und winzig ist der Mensch zugleich; riesig, wenn er ein Ziel hat und das Selbstvertrauen und den entschlossenen Willen für sein Ziel einsetzt, doch winzig ist er, wenn er verzweifelt ist und seine Fähigkeiten in Frage stellt!

Ein Reisender ist der Mensch in dieser Welt und alles, was auf ihn und auf seine Reise nach seiner Abfahrt hinweist, sind die Spuren, die er hinterlässt, wie ein Laufender auf dem Sand...irgendwann kommen später Leute, die sich an der gleichen Stelle verlaufen haben, aber mit den Fingern nach den Spuren zeigen und sagen: ´Es lief hier Einer´...und dann laufen sie seinen Spuren hinterher...

  - Noch ein Reisender!! Du Fremder, ich heiße dich Willkommen, in meinem bescheidenen Reich....

Ich schaute um mich herum und sah noch einen anderen Mann, der so auf dem Strand läuft und den Boden ständig anguckt, als würde er nach etwas suchen. Ich näherte mich ihm und sagte lächelnd:

  - Na, willst du dich von dem Meer auch inspirieren lassen?

  - Entschuldigung! Was? Von wem reden Sie überhaupt?

  - Von dem Meer natürlich. Es hat dich gerade begrüßt! Hast du es nicht gehört?

  - Das Meer? Mich begrüßt? Ich hab gar nichts gehört! Wenn Sie Witze machen wollen, dann mit jemand anderen bitte, dafür habe ich einfach keine Zeit und keine Laune!

  - Ja ich weiß! Du musst nur an dich glauben und deinen inneren Kräften vertrauen!

Und ich legte ihm meine Hand auf seine Schulter.

  - Was? Sind Sie verrückt? Was plappern Sie da für ein komisches Zeug?

  - Hey, du bist bestimmt auch aus lauter Ratlosigkeit und Verzweiflung hierher gekommen! Was würde Sie denn sonst in dieser späten Stunde zum Meer führen? Es ist bestimmt der Drang, sich emotional aufzutanken und in völliger Resignation nach dem wahren Sinn des Lebens zu fragen!

  - Nein Mann, hören Sie, ich war hier abends und ich suche jetzt nur meinen Schlüsselbund!

  - Schlüsselbund? Nur deswegen? Wegen eines Schlüsselbundes?

  - Na, was denn? Denken Sie, ich wäre verrückt, um hier nachts nach diesem Blödsinn zu fragen? Ich muss morgen arbeiten!

Dann fügte er hinzu:

  - Nichts für ungut!

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, bin ich heimgelaufen.

* * *

Ja ... die Stimme verschwand, wie sie gekommen war. Sie verschwand und ließ mich so, wie sie mich gefunden hat: Einsam.
War das alles nur eine Illusion? Habe ich mir das Ganze eingebildet? War es nur eine Fantasie eines übermüdeten Gehirns?
Ich weiß es nicht. Aber ich weiß sicher, dass ich von nun an ein bestimmtes Ziel in diesem Leben habe. Ein gutes Ziel für das es sich lohnt zu kämpfen.

Das Ende...



*1 Friedrich Nietzsche
*2 Bertrand Russel