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Irgendwo zwischen lila und blau

von charlotte.doyoudive


Ein dunkler Baum in einer warmen Sommernacht. Flackerndes Licht wird auf ihrem Weg an die Bar abgelöst von anderen Impressionen. Dann die Lampen über dem Tresen. Würdest du jetzt bitte hinter die Theke kommen und ein wenig Gläser polieren helfen? Im Service sollten sie mittlerweile ohne dich auskommen.
Ja.
Natürlich. Der erste Abend ist stets ein Ja-Abend. Ein Abend, der einen überall und nirgends integriert. Sie reibt die Gläser trocken und sieht nichts anderes mehr. Die Lampen sind aus ihren Augen verschwunden, die Gefühle aus ihrem Blick. Jetzt ist sie hinter bergenden Mauern und arbeitet separat. Der, der die Gläser spült möchte mit ihr sprechen.
Na, alles ok?
Sie antwortet in oberflächlicher Ausführung ihrer Eindrücke. Und bejaht. Natürlich ist alles ok. Der erste Abend eben. Seine Hände spülen mechanisch und schnell. Sie beeilt sich beim Polieren, versucht, ihre Bewegungen den seinen anzupassen. Ein Team. Schnell, gut, routiniert. Ein Glas, noch eines, noch eines. Tu mir einen Gefallen, sagt ein anderer Barkeeper, wenn du hier helfen möchtest, dann POLIER die Gläser, bitte, oder laß es ganz bleiben! Er deutet auf zurückgebliebene Wassertropfen. Auch in ihren blauen Augen spürt sie jetzt so etwas. Wut. Scheiße, denkt sie, wie geht das? Die Verlangsamung des Tempos reißt sie aus dem Solidaritätsgefühl heraus, läßt sie wieder separat arbeiten, in Anstrengung.
Der Gläser Spülende trägt seine dunklen Haare in einem merkwürdigen Schnitt. So, als wolle er lieber vierzig Jahre früher seine sechsundzwanzig Jahre jung sein. Wie einer von den Beatles, geht es ihr durch den Kopf. Wie heißt du eigentlich? Tilo, sagt er. Während ihre Hände mehr schmerzen und sich stärker erröten, erzählt er sehr rational von den Studieninhalten seines Faches. Spricht von fiktionalen, realen und hyper-realen Suggestionen. Sie ist fasziniert, interessiert. Lauscht mit abwechselnd müdem und aufmerksamem Blick. Er schaut immer lange zurück. Hält lange ihren Wasseraugen stand.
Sie muß die Kerzenständer sauber kratzen. Es ist wenig Kraft in ihren Händen zurückgeblieben, und so dauert es seine Zeit. Sie kratzt und schabt, und irgendwann sieht sie ihn, wie er an den Tresen gelehnt raucht und sie beobachtet. Da waltet ein Genuß auf seinem Gesicht. Ein Lächeln irgendwo unter der Haut. Er mag sie, wenn sie arbeiten muß, während er pausiert. Welch eine angenehm provozierende Demütigung, denkt sie und rückt aus ihrer müden ein-Bein-Belastung in eine aufrechte Haltung. Sag mal, macht dir das Spaß, fragt sie durch den Raum zu ihm hinüber. Er antwortet nicht, schaut sie nur weiter an. Das Lächeln, glaubt sie, hat sich verstärkt. Sie wird ernst, lauter. Anderen beim Arbeiten zuzuschauen?! Nun antworte schon, Mann! Mit dem Messer rutscht sie ab und schabt ein wenig von der roten Haut ihres Zeigefingers in die Wachsreste. Er nickt. JA, sagt er mit einem Grinsen, ganz besonders, wenn ich ne Zigarette rauchen darf und grade Pause mache.
Am Ende ihres ersten Abends in dieser Bar ist es schon spät. Sie fühlt sich ein wenig wie in Trance, als sie am dunklen Tresen vorbei durch den leeren toten Raum Richtung Nachtluft geht. Tilo hält ihr die Tür auf. Bitte schön, sagt er, treten Sie nur vor mir aus. Sie geht einen Schritt in die Freiheit, er nimmt einen Zug an einer Zigarette und beginnt in Ruhe und Langsamkeit sein Vorhaben.
Ich gehe jetzt noch zu `nem Kumpel in eine kleine Kneipe. Kommst du mit? Is' direkt hier um die Ecke, zehn Minuten vielleicht.
Sie zögert. Sie spürt die Müdigkeit in ihrem Körper, die Relikte von Tränenflüssigkeit in ihren Augen.
Ja., sagt sie, und denkt, was sonst kann ich antworten am ersten Abend?
Die Straßen sind naß und dunkel, alle Kerzen haben sie ausgeblasen, die Gastronomen. Jede Gemütlichkeit wurde am zu frühen Morgen mit den Gästen in ihre Betten geschickt. So, dass es hier nun wirkt wie ohne Gesetz, ohne Schutz und ohne Zwang.
Die Bar ist leer, außer einem Pärchen und einem Typ an der Theke ist keiner dort. Tilo schüttelt dem, der hinter dem Tresen steht die Hand. Hey. Hey, na, alles okay? Sie hört nicht weiter hin. Nimmt Platz in einer Ecke, wo sie dann bald Cocktails trinken und quatschen. Als er plötzlich einfach seinen Mund auf ihren drückt, macht sie dem ersten Abend ein Ende und wehrt ab.
Nein, sagt sie, drückt ihn von sich und mustert ihn, als sei sie in ihrer Analyse zu höchster Präzision fähig.
Was schaust du so, fragt er.
Was willst du, fragt sie.
Küssen, antwortet er und versucht es wieder. Seine Zunge kann das so gut, dass sie nur ihre Hände sprechen läßt. Ihre Fingernägel bohren sich in seinen Hals. Den Rest ihres müden Körpers überläßt sie ihm. Er sagt, laß das mit deinen Nägeln, damit machst du mich nur noch mehr an.
Sie reden dann gar nicht mehr viel. Einen einzigen Satz schenkt sie ihm zur Erklärung, einen, mit dem sie den kleinen Krieg erlaubt, den Startschuß gibt. Er sieht sie nur an, nach diesem Satz, und er versteht. Seine Hände und sein Körper drücken sie an die Wand.
Er sagt, merk dir eines. Haß. Haß. Haß. Das ist das Wort. Dann nimmt er sie mit sich.
Der Taxifahrer weiß nicht, was er tun soll. Sie sagt laut, lassen Sie mich bitte raus! Er hält an. Aber sie kann nicht aussteigen. Tilo hält sie fest, behandelt sie grob. Du gehst nicht, sagt er.
Ich gehe!, sagt sie.
Du bleibst schön hier, Kleine, sagt er.
Ich will aber nicht, Tilo, sagt sie.
Du kommst mit zu mir!, er wird wütend. Der Taxifahrer ebenfalls. Der ist unsicher, was soll er tun. Können Sie sich bitte benehmen, sagt er in zittrigem Deutsch. Auf dem Rücksitz seines Taxis rauben ihm zwei die Kontrolle. Er sieht einen jungen Mann in schroffer Aggressivität gegenüber einer Frau. Er erhält eine Anweisung, die er zu befolgen hat. Er denkt nach über die Mündigkeit jedes einzelnen und haßt die Überlegenheit des Mannes in diesem Moment. Haßt den Mann, der den Wunsch der Frau nicht respektiert. (Aber ihren Willen. Ihren Willen wird er respektieren)
Können Sie sich bitte einigen?
Fahren Sie weiter, sagt Tilo.
Ok, willigt sie ein, weiterfahren.
Sie könnte weglaufen. Los rennen. Flüchten. Fliehen. Die Straße ist in der wenn auch nur zaghaft angedeuteten Morgendämmerung größer als inmitten der Nacht. Mehr Freiheit herrscht auf diesem Pflaster im anderen Teil der Stadt. Und genau deswegen reißt sie sich nicht los, versucht keinen Befreiungsakt. Sie ist es ja bereits. Frei. Es ist alles in ihrer Hand. Alles von ihr gewollt. Und immer schon heimlich gewünscht.
Die Tätowierung auf seinem Arm ist von einer überwältigenden Ästhetik. Sie kann ihre Augen nicht davon abwenden. Dieses Indianergesicht mit dem Blick in die Ferne, berechnend, stark, voller Mut und Ruhe sind die Augen. Und in dieser Ruhe liegt eine sichere Überlegenheit. Ihn begleitet das Leben. Ihn, der den Tod sähen will. So viel Gutes in seinem Ausdruck. So viel Verheerendes in seinem Blickfeld. Totenköpfe.
Er erklärt ihr das Kunstwerk. Erklärt ihr sein kriegerisches Ich.
Ihre Finger wandern zwischen ihre nackten Schenkel, während er redet. Er redet eine kleine große Schreckensgeschichte. Seine Geschichte. Redet sie laut leise. Sie saugt Bilder der Gewalt in sich auf. Bilder, die sie lediglich dünn in die Luft gezeichnet betrachten kann. Weil sie ihn nicht kennt. Weil sie so ein Leben nicht kennt.
Er raucht, raucht seine "Zigarette dazwischen". Als er ihr Fingerspiel sieht, verstummt er.
Sie sagt, nein, nein, hör nicht auf zu reden, ich mag das, was du da erzählst. Und also redet Tilo zwischen langen Zigarettenzügen weiter. Er spricht von Straßenschlachten und vom Phänomen der Triebbefriedigung durch Gewalt. Er schaut ins Nichts und bekommt ein Gesicht wie sein Indianer. Sie liegt vor ihm auf seiner Couch und macht weiter und weiter, und kommt zu dieser Geschichte.

Die Kerzen in seiner Wohnung hat sie nicht übersehen. Auch nicht die Bilder von Liebenden oder die sanften Klänge irgendeiner Musik von vor vierzig Jahren. Dennoch will sie nicht bleiben, in diesem ganz anderen Teil der Stadt, und also geht sie mit den Vögeln und den Vagabunden in den Morgen. Sie geht über eine wunderbar gewölbte Brücke, schwebt länger und länger über der Wasserkluft zwischen zwei Ufern. Und am Ende lacht sie und singt und tanzt. In der S-Bahn sitzt sie dann da. Mit sich selbst. In endlich offenbarter Freundschaft.