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Herbstspaziergang

von ILJA

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Ich gehe allein spazieren an diesem Morgen. Es ist Herbst, die Luft feucht und kalt, durchgeweichte Blätter liegen auf den Wegen, mein Atem bildet weiße Wölkchen. Ich mag dieses Wetter, ich bin ungestört und kann im Park meinen Gedanken nachhängen. Der dichte Nebel lässt mich kaum zehn Meter weit sehen, aber ich kenne die Wege gut und so wird mich auch bestimmt niemand stören.
Ich biege nach links ab auf einen Weg, der nur Wenigen bekannt ist. Er ist zugewachsen, Rhododendron, Kirschlorbeer und Wachholdersträucher haben sich breit gemacht und versperren den Blick. Ich schiebe mich durch die Büsche, von den vor Feuchtigkeit triefenden Blättern werden meine Sachen nass, die Schuhe sind es sowieso schon. Tiefe Stille, nichts ist zu hören, keine Vögel, kein Rascheln, der Nebel verschluckt alle Geräusche. Ich fühle mich wie der einzige Mensch auf Erden.
Eine dünne Silhouette lenkt meine Aufmerksamkeit auf sich. Was ist das? Es könnte ein Einkaufswagen sein. Ich komme näher und sehe einen Gehwagen, wie ihn die älteren Leute benutzen, die nicht mehr so gut laufen können. Er steht neben einer, schon etwas in die Jahre gekommenen Bank, der einzigen auf diesem abgelegenen Weg.
Seltsam, so ein Gehwagen wird ja einen Benutzer haben, aber um diese Zeit, an diesem Ort? Ich komme näher, hinter der Bank sehe ich einen dunklen Schatten, Atemwolken steigen auf. Eine ältere Frau liegt dort, regungslos. Wurde sie überfallen?
"Was ist denn mit ihnen passiert?", frage ich. Keine Antwort. Nochmal. "Was ist mit ihnen, kann ich ihnen helfen?"
Die Frau sieht mich an, die Brille vergrößert ihre Augen um ein Vielfaches. Sie spricht leise. "Lassen sie mich liegen, es geht nicht mehr."
"Ich werde sie auf keinen Fall hier liegen lassen. Kommen sie, ich helfe ihnen auf."
Ich fasse sie unter ihren Schultern, sie ächzt und stöhnt, schließlich ist sie wieder auf den Beinen. Ich stütze sie und gehe mit ihr zu der Bank, fege ein paar gelbe Blätter hinunter und wische sie mit dem Taschentuch ab. Wir setzen uns hin, ihr Atem geht schwer.
Ich schaue sie mir an. Sie trägt einen dunklen Mantel, eine dunkelgraue Hose und ein dünnes Tuch um den Hals, ihre schwarzen Schuhe haben schon bessere Zeiten gesehen. Ihr graues Haar ist voll und zu einem Dutt zusammengenommen. Die Gläser ihrer Brille sind dick und lassen ihre grauen Augen unnatürlich groß aussehen. Ihr Gesicht ist fast faltenfrei, die Haut glatt und weiß, ein Leberfleck prangt auf der linken Wange. Eine Oma wie aus dem Bilderbuch.
Ich frage sie nocheinmal. "Was ist denn passiert, sind sie gestürzt?" Sie schaut mich an als verstehe sie mich nicht, noch immer atmet sie schwer. Ich lasse sie in Ruhe durchatmen und frage nicht mehr.
Eine Weile sitzen wir wortlos nebeneinander. Dann fängt sie an zu erzählen, von ihrer kleinen Wohnung und dem Pflegedienst, der zweimal am Tag vorbeikommt. Immer nur kurz und ohne Zeit für sie. Sie erzählt von der Einsamkeit in ihren vier Wänden, der Stille und von dem Fernseher, der den ganzen Tag läuft, um diese Stille zu durchbrechen. Sie erzählt von den Spaziergängen im Park und von dem Gehwagen den sie bekommen hat, als es mit ihren Beinen schlechter wurde.
Ich sitze nur da und höre zu. Die Frau scheint froh zu sein, endlich mal jemanden zu haben, dem sie das alles anvertrauen kann.
Ihre Kinder wohnen weit weg, haben kaum Zeit und kommen nur selten vorbei. Sie versteht das. Die Arbeit ist wichtiger, heutzutage.
Dann beginnt sie von früher zu erzählen. Von einem großen Gut in einem unaussprechlichen Dorf in Südeuropa, das sie mit ihrem Mann bewirtschaftet hat. Pferde haben sie gezüchtet, Vieh gehalten und Getreide angebaut.
Dann kam der Krieg und die Anordnung "Deutsche, heim ins Reich!" Sie erzählt, wie sie alles aufgegeben mussten und sich mit Pferd und Wagen auf den Weg nach Deutschland machten. Wie die Front sie überrollte, die Soldaten ihre Pferde nahmen, bis auf eines, das schwächste. Von Hunger, Kälte und Strapazen, der Angst um ihre Kinder, sieben an der Zahl.
Sie redet von den russischen Soldaten, die ihr geholfen haben. Ja, auf die Russen lässt sie nichts kommen, die waren immer korrekt zu ihnen gewesen, immer hilfsbereit und nett.
Als ihr letztes verbliebenes Pferd nicht mehr wollte, es weder mit gut zureden noch mit der Peitsche gehen wollte und einfach stehen blieb, kam da dieser Soldat des Wegs. Er fragte was denn sei, ging zu dem Pferd und flüsterte ihm beschwörerische Worte in die Ohren. Ein kurzes Zungenschnalzen und das Pferd trottete weiter.
Sie redet von einem Mann, der in Pelze gewickelt in seiner Kutsche saß und weiter fuhr, als ihr Wagen festgefahren im Matsch steckte und sie ihn um Hilfe bat. Verflucht hat sie ihn. 'Bleib doch in Deiner Kutsche sitzen. Aber pass gut auf sie auf, Du wirst sie noch dringend brauchen.' Sie hat ihn wiedergetroffen. Seine Beine waren erfroren, er würde nie wieder laufen können.
Ich unterbreche sie nicht ein einziges Mal. Sie redet und ich höre ihr gebannt zu. Die Farbe ist in ihr Gesicht zurückgekehrt, ihre Wangen bekommen eine rosige Färbung, vielleicht von der kalten Luft, vielleicht wühlt die Erinnerung sie auf, ich weiß es nicht. Mir wird langsam kalt auf der Bank. Die feuchte Luft kriecht durch die Fasern meiner Kleidung, ich habe das Gefühl, dass der Nebel immer dichter wird. Aber ich bewege mich nicht, ich habe Angst, sie könnte aufhören zu erzählen.
Ihr Mann wurde verschleppt und man trennte sie von den beiden ältesten Kindern, als sie mit einem Zug weiterfahren sollten. Ihr Jüngster, gerade mal ein Jahr alt, wurde für todkrank und nicht mehr zu retten erklärt, als sie im überfüllten Zug saß. Sie aber hat es nicht wahrhaben wollen und ihn fest an sich gedrückt. - Zu Recht. Heute ist er Lehrer, ein guter Junge, kommt öfter als die anderen Kinder zu Besuch, aber trotzdem zu selten.
Sie hat es geschafft ihre Familie wieder zu vereinen, in einem kleinen Dorf in Norddeutschland, das nach der langen Flucht zu ihrer neuen Heimat wurde. Ihre beiden ältesten fand sie in einem Auffanglager, halb verhungert, aber gesund. Nur ihr Mann war anfangs nicht aufzufinden.
Schließlich bekam sie die Information, dass ihr Mann auf einem Hof in Polen zu finden sei, so machte sie sich wieder auf den Weg. Zu Fuss, wenn sie Glück hatte, nahm sie jemand auf einem Karren oder in einer Kutsche mit. Sie hat ihn tatsächlich gefunden, als Knecht arbeitete er für Essen und Unterkunft auf einem Gut. Hart musste sie mit der Gutsherrin ins Gericht gehen, die ihren Mann nicht gehen lassen wollte. Aber sie hat ihn mitgenommen, mit in das kleine Dorf in Norddeutschland. Ihre alte Heimat hat sie nie wieder gesehen, aber sie hat es geschafft ihre Familie heil und unversehrt durch den Krieg zu bekommen.
Ihr Mann starb vor sieben Jahren an Lungenkrebs. Ja, er war ein leidenschaftlicher Raucher, klaglos hat er sein Schicksal hingenommen.
Seit fünf Jahren lebt sie nun schon allein in ihrer kleinen Wohnung im Hochhaus gleich hinter dem Park. Ihre Knochen sind müde geworden, erzählt sie, das kalte und feuchte Wetter tut ihr nicht gut.
Die Kinder haben ihr vorgeschlagen in ein Seniorenheim zu ziehen, da hätte sie den ganzen Tag Leute um sich und würde gut betreut werden. Sie wolle es sich überlegen, hat sie ihnen gesagt. Aber sie möchte nicht in ein Heim, nicht unter die anderen alten Leute, nicht ihre Selbstständigkeit verlieren, auch wenn sie inzwischen nicht mehr viel alleine machen kann.
Vor einiger Zeit hat sie eine Bekannte in einem Seniorenheim besucht. Es war schön dort, die Pflegerinnen nett, ihre Bekannte war dort gut untergebracht. Aber dann ging es ihrer Bekannten schlechter, sie konnte oder wollte nicht mehr essen. Eine Sonde haben sie ihr in den Magen gesteckt und sie künstlich weiter ernährt, haben sie nicht sterben lassen. Monatelang lag sie in ihrem Bett, wurde zwangsernährt, am Leben erhalten. Doch was ist das für ein Leben? fragt sie.
So möchte sie ihre letzten Tage nicht verbringen, erzählt sie weiter, es wäre in Ordnung, wenn sie jetzt sterben würde. Sie hat ihr Leben gelebt, sieben Kinder groß gezogen, schreckliche Dinge gesehen, die sie nie vergessen wird. Jetzt hat ihr Leben keinen Sinn mehr. Wenn sie abends ins Bett geht hofft sie, dass sie morgens nicht wieder aufwacht. Aber diesen Gefallen tut ihr Körper ihr nicht. - Noch nicht. So geht sie weiter in den Park, wenn das Wetter es zulässt und ihre Knochen nicht zu sehr schmerzen.
Als sie heute früh im Park stürzte und nicht wieder hochkam, da dachte sie schon, das wäre das Ende. Aber dann war ich ja vorbeigekommen.
Es war kein Vorwurf, oder doch? Ich sehe sie von der Seite an, zusammengesunken sitzt sie auf der Bank und schaut vor sich hin. Muss ich mich jetzt entschuldigen? Ein schlechtes Gewissen keimt in mir auf. Ich schüttele es ab. Hätte ich sie hier liegen lassen sollen? Nein, natürlich nicht.
Der Nebel will sich nicht lichten. Mir ist inzwischen mächtig kalt geworden, ich unterdrücke das Zähneklappern. Wir sitzen nebeneinander auf der Bank, ebenso plötzlich wie sie zu erzählen anfing, ist sie wieder verstummt.
"Es ist kalt, wollen wir nicht gehen?" frage ich. Sie sieht mich mit ihren großen Augen an.
"Nein, ich möchte noch nicht gehen."
"Aber ich kann sie doch nicht so hier sitzen lassen. Kommen sie, ich bringe sie nach Hause."
"Ich bleibe noch."
"Aber wenn ihnen etwas passiert, werde ich mir das nie verzeihen. Geben sie sich einen Ruck."
"Was soll mir denn noch passieren?" fragt sie.
Ich verstehe. Langsam stehe ich auf und sehe sie mir noch einmal an.
"Na dann, alles Gute."
Sie antwortet nicht, sitzt nur still auf der Bank.
Ich gehe los, erst langsam, dann immer schneller. Noch ein letztes Mal sehe ich mich um, doch der Nebel hat ihre Silhouette bereits verschluckt.