www.Kurzgeschichten.bplaced.net


Der Wald

von Ilschen

Endlich war es Frühling geworden. Der Winter war kalt und schneereich gewesen und hatte sich scheinbar endlos dahin gestreckt. Doch nun war der Schnee getaut, die zunehmende Helligkeit der Tage weckte neue Energie und heiterte die Stimmung der Menschen auf.
Wie schon so oft ging er den vertrauten Weg entlang, zu einem Wald, den er schon seit seiner Kindheit kannte. Gleich hinter dem Dorf begann er und erstreckte sich bis zur nächsten Ortschaft, die in einem eineinhalbstündigen Spaziergang zu erreichen war. Die Sonne schien und ihre Strahlen wärmten ihn angenehm. Tief atmete er die noch kühle Morgenluft ein. Es roch nach Harz, feuchter Erde und leicht nach Moder.
Er folgte zunächst dem breiten sandigen Weg und ließ seine Blicke umherschweifen. Tatsächlich, es war so weit. Die Sonne hatte auch die ersten Blüten dieses Jahres hervorgelockt. Das zarte Gelb der Schlüsselblumen, deren Blüten auf hohen Stielen standen, erfreute ihn ebenso wie die kräftigere sonnig-gelbe Farbe der Sumpfdotterblumen im Graben neben dem Weg. Einen reizvollen Kontrast dazu bildeten die rötlichen und blauvioletten Blüten des Lungenkrautes.
Er verließ den Hauptweg und ging auf einem schmaleren Pfad tiefer in den Wald hinein. Der Boden schien von einem riesigen Teppich bedeckt zu sein, eine unglaubliche Blütenpracht lag vor ihm. Das Grün der Blätter war unter den unzähligen weißen Blüten der Buschwindröschen fast nicht mehr zu sehen. Es mussten Millionen sein; nie würde jemand die genaue Zahl kennen.
Der Pfad endete an einer Lichtung. Er überquerte sie und ging weiter, bis er zu einer Gruppe hoher Buchen kam, die einen großen Kreis bildeten. Hier hatte er als Kind oft mit seiner Mutter gerastet, wenn sie Beeren und Pilze gesucht hatten, und sie hatte ihm Geschichten vom Wald und dem Leben darin erzählt
Er trat an eine der Buchen heran. Sanft strich seine Hand über den glatten grauen Stamm und er schaute nach oben, wo sich die mächtigen Äste hoch in den Himmel reckten. Er legte seine Arme um den Stamm, doch es gelang ihm nicht ihn zu umfassen. Wie alt mochte der Baum inzwischen sein? Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen. Sein Weg führte ihn weiter zu anderen Plätzen, die eng mit Erinnerungen an seine frühen Jahre verbunden waren und die ihm besonders am Herzen lagen.
Nach einiger Zeit erreichte er wieder den Hauptweg. Es war spät geworden und so wandte er sich seinem Heimatdorf zu. Er fühlte eine innere beschwingte Freude, die seine Schritte beflügelte.

Für einige Monate führte ihn sein Beruf ins Ausland. Obwohl es ihm dort gefiel, vermisste er „seinen“ Wald, die Wanderungen und Spaziergänge darin, die zu jeder Jahreszeit andersartige Schönheit. Doch dann war er zurück, wieder in der Heimat.
Erwartungsvoll wandte er seine Schritte dem altvertrauten Weg zu. Als er sich näherte, stockte ihm der Atem. Wieder strich seine Hand sanft über die Stämme, die glatten und die rauen. Doch dieses Mal erfüllte ihn eine tiefe Trauer. Er nahm Abschied, er würde nicht wiederkommen.

Sein geliebter Wald lag in hohen Stapeln links und rechts des sandigen Weges.
Die Gegenwart hatte ihn eingeholt.